Prof. Dr. Gerhard Schaefer

Naturwissenschaftler, Bildungsforscher

Japanprojekt:
Lehrerbefragung

Fachausbildung oder Menschenbildung?

Ist das deutsche Gymnasium eine „Sozialeinrichtung zum Verstandestraining“?

Gilt in Deutschland mehr die Fachausbildung, in Japan mehr die Menschenbildung?

Erziehen die Fächer bei uns zu Gesundheitsbewusstsein, Menschenliebe, vielleicht sogar zu einer „höheren Ebene des Denkens und Fühlens“?

Eine deutsch-japanische Vergleichsstudie an Lehrkräften

von Gerhard Schaefer und Ryoei Yoshioka in Zusammenarbeit mit Sigrid Zörgiebel-Schaefer

Autoren

Gerhard Schaefer

Ryoei Yoshioka

Sigrid Zörgiebel

 

1. Einleitung

Das Ziel des Allgemeinbildenden Schulwesens ist natürlich, wie der Name sagt, „Allgemeinbildung“ (General Education). Dabei soll die Aufspaltung in verschiedene Fächer dazu dienen, dass alle Teilaspekte von Bildung berücksichtigt werden und keiner langfristig fehlt oder unterrepräsentiert ist.

Die Bildungskommission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ), auf deren Vorarbeiten das hier dargestellte Projekt zurückgeht, hatte Zweifel an dieser Art von „Allgemeinbildung“ aus 2 Gründen (s. Fußnote 1) und verfolgte stattdessen das Konzept eines „fachübergreifenden Fachunterrichts“. Das klingt zunächst paradox. Wie kann ein „Fach“ fachübergreifend sein? Es soll aber besagen, dass ein Schulfach sich nicht auf seine Fachperspektive allein beschränken, sondern immer das übergreifende Ziel von Allgemeinbildung im Auge behalten sollte.

Das heißt: Trotz aller fachlichen Spezialziele, die eine Lehrkraft verfolgt und auch weiter verfolgen muss, sollte immer das breite Spektrum der anderen Fächer mit bedacht und die eigenen Fachinhalte da, wo es möglich ist und das Alltagsleben es nahelegt, mit Inhalten anderer Fächer – zumindest assoziativ – verknüpft werden.

Am Ende steht dann zum Beispiel nicht mehr ein auf sich selbst fokussierter Chemieunterricht, sondern einer, der angereichert ist mit Inhalten aus Mathematik, Physik, Biologie, Geschichte, Geographie, Sprachen, Künsten, Religion, Sport usw. Diese Inhalte können dann entweder über sachlogische Beziehungen oder einfach assoziativ Brücken schlagen zu anderen Fächern, so dass daraus dann wirklich „Allgemeinbildung“ entsteht, deren Tragfähigkeit sich später im Alltag und Privatleben wie auch in den verschiedensten Berufen bewährt.

Der Gedankengang der GDNÄ-Kommission führte dann konsequent zu der letzten pädagogischen Frage: Welchem Menschenbild dient eigentlich diese Art von Unterricht –  was ist das letzte Ziel schulischer Bildung? Es sollen ja nicht kleine „Physiker“, „Informatiker“, „Geographen“, „Historiker“, „Anglisten“ mit dem Abitur die Schule verlassen, sondern gebildete Menschen mit einem breiten geistigen Fundament, das dann später Spezialisierungen in die verschiedensten Berufe hinein erlaubt.

2. Allgemeinbildung als Menschenbildung: ein 28-teiliges Menschenbild

Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch noch über ein reiches Erbmaterial aus dem Tierreich verfügt, das uns zu über 90% mit den Menschenaffen verbindet, und wenn wir dann menschenspezifische Anlagen betrachten, die uns von den Tieren unterscheiden, so kommen wir leicht zu der in Abb. 1 dargestellten Struktur eines biologisch (genetisch) begründeten Menschenbildes, das aus zwei konzentrischen Kreisen zu je 14 Anlagen besteht:

Abb. 1:  Struktur eines Menschenbildes aus 2 Kreisen (Schaefer 2015). Innerer Kreis (grüne Spitzen): Anlagen, die wir noch mit den Menschenaffen gemeinsam haben. Äußerer Kreis  (rote Spitzen): menschenspezifische Anlagen, in denen wir uns von allen Tieren, auch den Menschenaffen – zumindest quantitativ –,  deutlich unterscheiden. Computer-Grafik (ohne Farbe): Dr. Michael Sinzinger

Das obige 28-teilige Menschenbild-Diagramm („Anthropogramm“), das in diesem Projekt zur quantitativen Erfassung von Daten zur Menschenbildung verwendet wurde, stammt aus Arbeiten der oben genannten GDNÄ-Bildungskommission zum fachübergreifenden Fachunterricht (s. Denkschrift „Allgemeinbildung durch Naturwissenschaften“, Schaefer/GDNÄ 2007, 2012, 2014). Das Menschenbild selbst wurde als Leitbild von Erziehung betrachtet und vor zwei Jahren publiziert (Schaefer, Nat.wiss. Rundschau NR 2015/10, S.83-91).

Erläuterung der 28 Merkmale des Menschenbildes

Innerer Kreis:

Homo memorans = der Mensch mit „Gedächtnis“:  Wir speichern neuronal Erinnerungen.

Homo communicans = der kommunizierende Mensch: Wir tauschen optische, akustische, taktile und andere (heute auch elektromagnetische) „Signale“ zur gegenseitigen Verständigung aus.

Homo patiens = der fühlende Mensch:  Wir besitzen Gefühle  (Lust/Unlust) und sind schmerzfähig.

Homo sentiens = der Mensch mit Sinnesempfindungen, der „sinnliche“ Mensch: Wir nehmen Sinnesreize durch spezielle Sinnesorgane bzw.Sinneszellen auf (insgesamt 13 verschiedene Sinne).

Homo intuens = der Mensch mit Intuitionen: Wir haben in Problemsituationen oft spontan, ohne langes Nachdenken, Ahnungen, Intuitionen, was richtig ist  (Intuition = „Vorausspüren“).

Homo socians = der Gemeinschaftsmensch: Menschen schließen sich gern zu Gruppen zusammen.

Homo amans = der liebende Mensch: Wir haben die Fähigkeit, innerhalb enger Gruppen einander zu lieben und in Zweiergruppen auch feste körperliche Bindungen einzugehen.

Homo confidens = der vertrauende Mensch: Menschen können – auch da, wo sie nichts „wissen“ – dennoch Vertrauen aufbringen. Das gilt gegenüber anderen Menschen, deren Denk- und Verhaltensweisen, aber auch gegenüber Methoden und ihren Ergebnissen (z.B. Wissenschaft).

Homo dormiens = der schlafende Mensch: Der Mensch kann sein Bewusstsein abschalten und in einen Schlaf verfallen, bei dem der bewusste Wille ausgeschaltet ist. Wir durchlaufen Tag-/Nacht-gesteuerte Ruhe- und Schlafphasen.

Homo respirans = der atmende Mensch:  Für den Energiestoffwechsel besitzt der Mensch eine rhythmische aerobe Atmung mit Luftwechsel (O2/CO2-Autausch).

Homo nutriens = der sich ernährende Mensch: Für den Stoffwechsel insgesamt und den Körperaufbau nehmen wir Nahrungsmittel und Getränke auf.

Homo movens = der sich bewegende Mensch: Wir können uns mit Muskeln, Knochen, Gelenken und Sehnen aktiv bewegen.

Homo pugnans = der kämpfende Mensch: Wir sind fähig und auch immer wieder bereit zu kämpfenum uns zu behaupten und eigene Positionen durchzusetzen.

Homo dominans = der ehrgeizige Mensch:  Menschen haben den Ehrgeiz, in einer Rangordnung bzw. Erfolgsleiter „oben“ zu sein, eine dominante Stellung einzunehmen und „Macht“ zu besitzen.

 

Äußerer Kreis:

Homo sapiens = der rational denkende, erkennende Mensch: Der Mensch hat aufgrund der mächtigen Zunahme seiner Schädel- und Gehirngröße eine höhere Bewusstheit erlangt und die Fähigkeit zu systematischen wie auch abstrakten Denk- und Speicherprozessen.

Homo loquens = der sprechende Mensch: wir haben die Fähigkeit, Meinungen, Gefühle, Gedanken durch Worte auszudrücken, zumindest zu umschreiben. Das wurde in der Evolution anatomisch möglich durch Umbildung des Kehlkopfes und Ausbildung spezieller „Sprachzentren“ im Gehirn.

Homo ridens = der lachende Mensch:  Während bei Menschenaffen ein grinsender Mund mit Zähnezeigen eher eine Drohgebärde ist, ist er bei Menschen als Lächeln Ausdruck von Freundlichkeit und Humor. Zusätzlich ein rhythmisches Schütteln des Zwerchfells zeigt dann eine stärkere emotionale Erschütterung an (→Lachen ; im Falle von Trauer aber auch Weinen).

Homo musicans = der „musische“, künstlerisch-geistige Mensch:  Der Mensch hat das Bedürfnis, mit Worten (Dichtkunst, Poesie, Literatur, Philosophie), Farben (Malerei), Tönen, Klängen (Musik) oder Bewegung (Schauspiel, Tanz) Gefühle und Gedanken sowohl auszudrücken, schöpferisch zu gestalten als auch passiv zu genießen.

Homo aestheticus = der Ästhet: Mit dem Vorigen verwandt ist das Bedürfnis des Menschen, Dinge nicht nur nach praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens zu ordnen, sondern auch nach ästhetischen, formalen wie Symmetrie, Struktur, Farbe, die nicht unbedingt lebenserhaltend sind, sondern einfach nur „schön“.

Homo ludens = der spielende Mensch: Besonders charakteristisch für die biologische Art „Mensch“ ist die lebenslange Fähigkeit und auch Neigung, zweckfrei zu spielen. Das auch bei anderen Säugetieren in der Jugend übliche „Lernen durch Spielen“, das beim erwachsenen Tier dann deutlich zurück geht, bleibt beim Menschen lebenslang erhalten.

Homo liber = der freie Mensch:  Aufgrund seiner mächtigen Gehirnentwicklung ist der Mensch weniger als Tiere an feste Reflexe und Instinkte gebunden und daher freier für schöpferische Prozesse verschiedenster Art. Kreativität und Variabilität des Verhaltens sind für ihn besonders charakteristisch.

Homo transamans = der „fremdenliebende“ Mensch: Mit der vorigen wie auch nachfolgenden Eigenschaft verwandt ist die Fähigkeit des Menschen, über engere soziale Bande zu gut bekannten Artgenossen hinaus (die ja auch bei Tieren üblich sind) Zuneigung und sogar Nächstenliebe zu Fremden zu entwickeln, die in Sprache, Religion, Hautfarbe usw. ganz anders sind. Das „trans“ gilt sogar auch in Bezug auf Tiere und Pflanzen.

Homo transcendens = der transzendente, spirituelle Mensch: Mit dem Vorigen eng verwandt ist auch die Fähigkeit und Neigung des Menschen, über alle sinnlich erfahrenen Grenzen hinaus sich immer wieder gedanklich oder emotional eine unsichtbare und objektiv nicht beweisbare „Welt dahinter“ vorzustellen. Sie ist die Grundlage von Spiritualität, die in allen Völkern in irgendeiner Form zu „Religion“ geworden ist.

Homo imaginans = der phantasiebegabte Mensch:  Das Vorige gründet auch auf die Fähigkeit des Menschen, im Unterschied zu anderen Säugetieren seine Vorstellungen (Imaginationen) weitgehend von seinen Sinneswahrnehmungen  trennen zu können. Mit dieser freien „Phantasie“ kann er sich in Märchen, Romanen, Filmen in virtuelle Welten versetzen, die es materiell um ihn herum gar nicht gibt. Da alle Menschen, ohne Ausnahme, diese Eigenschaft besitzendie Eigenschaft „sapiens“ aber nicht bei allen so überzeugend ist, wäre die Bezeichnung „Homo imaginans“ für die biologische Art „Mensch“ eigentlich viel treffender als die Bezeichnung „Homo sapiens“, die Carl v. Linné 1753 prägte.

Homo erectus = der aufgerichtete Mensch:  Der Mensch wurde im Laufe der Evolution Nachfolger des vor ca. 5 Mio. Jahren lebenden Homo habilis, der dann vor etwa 3 Mio. Jahren zum Homo erectus und später zum Homo sapiens wurde. Aufgerichteter Körper und das Laufen und Stehen auf zwei Beinen blieben infolge anatomischer Veränderungen der Wirbelsäule und des Beckens seit der Zeit vor 3 Mio. Jahren bis heute erhalten. Was aber heute in einer Zeit zunehmend sitzender Beschäftigung neu hinzu kommen muss, ist das Aufrichten im Sitzen (sozusagen der „Homo sedens erigens“), ein dringendes Gesundheitsanliegen der Gegenwart. Das aufrechte Auf-zwei-Beinen-Stehen-und-Gehen des bisherigen Menschen muss ergänzt werden durch ein aufrechtes „Auf-zwei-Sitzbeinhöckern-Sitzen“ des zukünftigen Menschen.  Insofern ist der „Homo erectus“ noch nicht ganz abgeschlossen, sondern noch im Werden.

Homo faber = der handwerkende, machende Mensch, der „Macher“:  Aufgrund der anatomischen Gegenüberstellung des Daumens zur Hand („Greifhand“) sind auch alle anderen Primaten fähig, Naturobjekte zu  ergreifen und als Werkzeuge zu benutzen (z.B. Steine, Stöcke, Zweige). Der Mensch aber mit seinem fortentwickelten Gehirn hat sich komplizierte Handwerkszweige und heute sogar eine ausgeklügelte Technik geschaffen, die sein ganzes Leben revolutioniert.

Homo sportivus = der Sport treibende Mensch:  Während auch andere Wirbeltiere – und offensichtlich mit Spaß – Spiele ausführen, in denen sie die verschiedensten Bewegungen üben, entwickelt der Mensch komplizierte, ritualisierte und meist in Mannschaften organisierte Bewegungsspiele, die er „Sport“ nennt.

Homo negotians = der Handel treibende Mensch, der „Geschäftsmann“: Affen tauschen Gegenstände nur zum unmittelbaren Gebrauch aus (z.B. Nahrungsmittel), Menschen dagegen auch als Stellvertreter für andere Dinge, sozusagen als „Werthalter“ (z.B. Kleidungsstücke, Schmuckstücke) und als höchsten Werthalter: Geld. Der Homo negotians ist der „Geschäftsmann in uns“, manchmal auch der „Geldmensch“, der durch sein Bankkonto etwas „gelten“ möchte.

Wie weit nun Fachlehrer in Deutschland und Japan dem hier skizzierten Anspruch eines menschenbildenden Fachunterrichts tatsächlich genügen, sollte in diesem Projekt geprüft werden. Ein erstes Ergebnis wird hier am Beispiel einiger ausgewählter Fächer dargestellt. Über weitere Ergebnisse und den Schülerteil des Projektes wird an anderer Stelle berichtet.

3. Die Fächer auf dem Hintergrund des obigen Menschenbildes

3.1 Ergebnisse von Aufg. 1; Vergleich mit Japan

In der ersten Aufgabe des Lehrertests wurden die Lehrkräfte gebeten, den Beitrag ihres eigenen Faches (bzw. in Deutschland der beiden eigenen Fächer) zur Menschenbildung in einer 4-Stufen-Bewertung 0 – 3 einzuschätzen (s. Abb. 2- 7). Die Aufgabe lautete:

Bewerten Sie bitte Ihr Fach/Ihre Fächer bzgl. ihres Beitrags zur Entwicklung der menschlichen Anlagen, und zwar in 4 Stufen:  0 = kein Beitrag,  1 = schwacher Beitrag,  2= deutlicher Beitrag,  3 = hoher Beitrag.

Abb. 2: Naturwissenschaften (in Japan Fach „Science“, in Deutschland Mittelwerte der 3 Fächer Ph, Ch, Bio)

 

Ergebnis: Deutschland liegt nach Einschätzung dieser Lehrkräfte bzgl. der Bedeutung des naturwissenschaftlichen Unterrichts für die Menschenbildung deutlich vor Japan. Das zeigt sich besonders im unteren und rechten Teil des Anthropogramms (im wissenschaftlichen und künstlerischen Teil).

Abb. 3: Mathematik

 

Ergebnis: Deutschland liegt nach Einschätzung dieser Lehrkräfte im Außenkreis deutlich vor (6 überragende Spitzen!), im Innenkreis jedoch hinter Japan zurück. Der Rückstand hinter Japan besteht vor allem links oben im körperlich-physiologischen Bereich.  Es fällt auf, dass in Deutschland mehr spezielle Einzelspitzen, in Japan dagegen ein insgesamt runderes, ausgewogeneres Bild für den Mathematik-Unterricht anvisiert wird:  ein Indiz für die hohe allgemeinbildende Zielstellung dieses Unterrichts.

Abb. 4: Muttersprache (deutsch / japanisch)

 

Ergebnis:  In der Einschätzung des muttersprachlichen Unterrichts für die Menschenbildung steht bei den befragten Lehrkräften Deutschland sowohl im Innen- als auch im Außenkreis deutlich hinter Japan zurück. Wie schon bei der Mathematik, so ist auch im Fach Deutsch vor allem die linke Seite des Anthropogramms in Deutschland viel schwächer vertreten als in Japan.

Abb. 5: Sozialkunde

Ergebnis: Auch hier, im Fach Sozialkunde, ist die Ausrichtung auf eine abgerundete Menschenbildung in Japan offensichtlich stärker als in Deutschland. Im deutschen Diagramm fallen trotz der Vorgabe der 28 möglichen Eigenschaften wieder die großen Lücken links oben ins Auge. In Japan nehmen selbst Lehrkräfte von Sozialkunde und Muttersprache (s. oben, Abb. 4) Themen des gesundheitlichen Bereichs in ihren Unterricht auf. Das Thema „Gesundheit“ ist dort Thema für alle Fächer, nicht nur – wie in Deutschland – für die Biologie, oder, wie es in Japan ja auch sein könnte, für das eigenständige Fach „Health and Physical Education“.

Abb. 6: Musik

Ergebnis:  Schon ein erster schneller Blick auf die beiden Figuren lässt erkennen, dass hier, beim Fach Musik, eine Umkehrung der Verhältnisse vorliegt: die befragten deutschen Musiklehrer/innen beziehen ihr Fach – mit Ausnahme von „sportivus“ und „negotians“, also dem sportlichen und wirtschaftlichen Bereich – viel stärker auf eine abgerundete Menschenbildung als die japanischen, und zwar im Innen- wie auch im Außenkreis (s. den ähnlichen Effekt bei den Naturwissenschaften, Abb. 2). Es ist also sehr betrüblich, wenn in Deutschland ausgerechnet das Fach Musik, das dem von uns angestrebten Ziel eines „menschenbildenden Fachunterrichts“ so nahe steht, in der Schule so wenig Gewicht bekommt!

Abb. 7: alle anderen Fächer zusammen (Che, Geogr.,Gesch., Lat., Engl., Sport, Rel., Inf. usw.)

Ergebnis:  Bei Betrachtung der restlichen Schulfächer im Überblick wird noch einmal deutlich, dass das hier als Fernziel von Unterricht erklärte abgerundete Menschenbild auch in diesen Fächern sehr viel stärker in Japan angesteuert wird als in Deutschland.

Von Naturwissenschaften und Musik einmal abgesehen, wo der von uns anvisierte „menschenbildende Fachunterricht“ offenbar schon jetzt stark verwirklicht ist, scheint also das japanische Gymnasium als Ganzes bzgl. dieses Zieles dem deutschen überlegen. Ob das auch unter Einbeziehung von Naturwissenschaften und Musik, also für das Gymnasium als Ganzes, gesagt werden kann, soll anhand von Abb. 8 und 9 noch einmal untersucht werden:

 

Abb. 8: Einschätzung des deutschen Gymnasiums als Ganzes (Mittelung über alle Fächer hinweg)
Abb. 9: Einschätzung des japanischen Gymnasiums als Ganzes (Mittelung über alle Fächer hinweg)

Auf den ersten Blick erscheinen Abb. 8 und 9 recht ähnlich und daher die Schulsysteme von Deutschland und Japan bzgl. Menschenbildung vergleichbar. Immerhin stimmen in diesen Figuren 13 von den 28 Spitzen ziemlich genau überein.

Das deutsche Gymnasium tritt aber doch mit 2 besonderen Spitzen hervor: „aest“ und „lud“, das heißt:  das Ästhetische und das Spielerische spielen hier anscheinend eine besondere Rolle (Schaefer 1998-2, s. auch Huizinga 1994: „Homo ludens“).

Auf der anderen Seite aber zeichnet sich das japanische Gymnasium sogar durch 9 besondere Spitzen gegenüber dem deutschen aus:

„pat“: eine stärkere Betonung des Gefühlslebens,

„erec“: aufrechte Körperhaltung, die schon von früher Jugend an geübt wird!

„fab“: Übung handwerklich-technischer Fähigkeiten,

„dor“: in Japan gibt es eine echte „Schlafkultur“, selbst am Tage und auch in der Schule!

„resp“, „nutr“, „mov“: gesundheitliche Ziele wie Atmen, Essen, Bewegung, die in Deutschland, wie oben schon gezeigt, sehr vernachlässigt werden (s. Schaefer 1998-1). Dass diese Ziele in Japan eine deutlich stärkere Rolle spielen als in Deutschland, ist an der Gepflogenheit regelmäßiger Gymnastik-Phasen vor dem Unterricht wie auch an der Existenz eines eigenen Faches „Health and Physical Education“ zu erkennen.

„spor“: Sport; und schließlich auch

„neg: Beruf, Handel, Wirtschaft, also pragmatische Ziele, die im mehr theoretisch ausgerichteten deutschen Gymnasium wenig vertreten sind.

Diese Bilanz von je über 100 Fachaussagen in Deutschland und Japan zeigt, dass tatsächlich das japanische Gymnasium als Ganzes dem deutschen bzgl. einer „abgerundeten Menschenbildung“ überlegen zu sein scheint.

3.2  Ergebnisse von Aufg. 2-4  des Tests

Im zweiten Teil des Tests wurden die Lehrkräfte gebeten, die Bedeutung ihres eigenen Faches bzw. ihrer beiden Fächer für die Allgemeinbildung junger Menschen nun einmal ohne Vorgabe eines Menschenbildes, d.h. ganz frei, zu formulieren, und zwar in 3 Schritten:

Aufgabe 2: Nennen Sie bitte 1-4 Beiträge, die Ihr Unterrichtsfach zur Kultur Ihres Landes bzw. der ganzen Menschheit liefert.   

Aufgabe 3: Nennen Sie bitte 1-4 Situationen des täglichen Lebens, wo das Fachwissen aus Ihrem Unterrichtsfach für junge Menschen besonders hilfreich ist.

Aufgabe 4: In welcher Weise kann Ihr Unterrichtsfach zur charakterlichen Entwicklung (Persönlichkeitsbildung) junger Menschen beitragen?

Aus diesem Teil des Projektes werden hier zunächst nur die deutschen Ergebnisse vorgestellt. Der Vergleich mit den japanischen folgt später in einem getrennten Aufsatz. Die Gegenüberstellung Aufg.1 / Aufg.2-4 kann dazu dienen, das oben gezeigte Bild vom deutschen Gymnasium zu vervollständigen und zu objektivieren. In Tab.1 zunächst zur Veranschaulichung einige Beispiele von der Art, wie die Lehrkräfte Aufgaben 2-4 beantwortet haben:

Tab. 1:  Beispiele, wie Lehrkräfte ihre Fächer charakterisieren 

Fach Aufg.2 Aufg.3 Aufg. 4
Math. Sprachkultur: Exakte Begriffe mit exakten Definitionen; Genauigkeit; Nutzen von Zahlsystemen. Denkkultur: log.-analyt. Denken in abstrakten Zusammenhängen. Ästhetik in Malerei,  Bildhauerei,  Musik, Architektur:  geometrische Proportionen. Größenvorstellungen. Statistik: Abschätzen von und Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten. Ausdauer fördern; lernen, Anforderungen auszuhalten. Genaues Arbeiten; Schlampigkeit = Charakterschwäche? Sorgfalt, Stringenz, Konsequenz. Gewöhnung an „Sauberkeit des Denkens“→Selbst-kritik, Bescheidenheit (EGO lernt in Mathem., sich vor höheren Werten wie „Richtigkeit“, „Beweis“ zu verneigen). Mathem.fördert Disziplin, Prä-zision i.d.Sprache, im  Idealfall Freude an Abstraktionen.
Phys Geschichte der Physik als Teil der menschl. Kulturgeschichte. Denkkultur: exakte Denkweise; Unter-scheidung exklusives/ inklusives Denken, materielle/informationelle Größen, Vektoren (mit Richtung)/ Skalare (ohne Richtung). Unterscheidung gefühlte/gemes-sene Temperatur („Wärme“), gefühlter/gemessener Druck. Sternenhimmel; Naturphänomene erklären: Regenbogen. Opt. Phänomene: Verständnis und Sinn für Schönheit. Sehfähigkeit des Auges: Optik v.Brillengläsern. Akustik: Tonintervalle (Musik). kritischer Umgang mit Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Aussagen. Schulung des rationalen, exakten Denkens („Homo sapiens“).
  Mus Musikkultur, Hörkultur, gemeinsames Singen → Gefühl von Gemeinschaft. Schulung der Sinne (Hören, Sehen, Tasten), Begegnung mit sich selbst und anderen. Erfahrung durch Musik → Tiefe erleben; verschiedene Emotionen und Empfindungen erleben und zuordnen
  Deut Sprache als mächtiges Ausdrucksmittel; Erkennen der Manipulierbarkeit durch Sprache. Analyse von Mitteln der Werbung zum Zweck der Kundenbeeinflussung. Strukturierung von Gedankengängen, Schulung der Urteilsfähigkeit.

Die Lehreraussagen von Aufg. 2-4 wurden nach 5 verschiedenen Methoden ausgewertet. 4 davon sollen später in einem anderen Aufsatz betrachtet werden.. Um einen direkten Vergleich mit den Ergebnissen von Aufg. 1 zu ermöglichen, wird hier in Tab.2 zunächst nur Auswerte-Methode 5 (das 28-teilige Menschenbild) herangezogen:

Tab. 2: Vergleich der Ergebnisse von Aufg.1 mit Aufg. 2-4

Fach Aufg. 1 (vorgeg. Menschenbild) Aufg. 2-4
(freie Formulierungen)
Ergebnis
Phys

vgl. Abb. 2 links

Die Diagramme sind extrem verschieden, d.h.die befragten Physiklehrkräfte sehen ihr Fach nicht in Richtung einer ausgewogenen Menschenbildung. Außer wenigen spärlichenSpitzen i.In-nenkreis (soc, int, pat, mem) liegt der Akzent auf 2 Spitzen i.Außen-kreis: sap u. fab (Theorie und Praxis!).
Math

s. Abb. 3 links

 

Ähnliches gilt für die Mathematik: auch hier nur wenige spärliche Spitzen i.Innen-kreis (soc, pat, com, mem, dom), aber im-merhin 4 deutl. Spitzen i. Außenkreis: sap, neg, fab, loqu. Interes-sant, dass die Mathematik-Lehrer ihr theo-retisches Fach auch  mit Wirtschaft (Praxis) verbinden! (neg)
 Biol.

vgl. Abb. 2 links

 

Hier fällt schon beim ersten Blick auf die linke Figur die große Zahl kräftiger Spitzen innen (das „tierische Erbe“) u. d. ausgewogene Verteilung von Spitzen außen auf. I.d. rechten Figur dagegen innen nur kl. Spitzen i. physiol.Be- reich (l.o.) u.3 kräftge-re bei mem,soc,ama, außen aber 2 extreme b. sap+tr.a.(Biologen: tr.a. = Liebe z. Natur?)
Kunst

Die beiden künstleri-schenFächer zeichnen sich in d. linken Figur durch viele kräftige

Spitzen im Innenkreis, dem „vitalen Unterbau des Menschen“, aus, Musik bes. bei resp (Atmung) u.mov  (Bewegung, Tanz!).

Auch i.d.rechten Figu-ren treten gemeinsame Spitzen auf: innen soc,sent, pat,com (bei  musischen Fächern plausibel), außen mus (bes.b.Musik)aest,sap bei Kunst auch fab (Handwerkliches!) u. ima (Phantasie!). Auffallend b.Musik extremes soc (Musik → Gemeinschaftserleben?)

Musik

s. Abb. 6 links

Relig

Bei Vorgabe des Menschenbildes  (Aufg.1) o.l. deutl.Zacken in-nen (physiol.Bereich): b. Rel. seltsam (gut!).

Aufg.2-4: sap+soc ex-trem >> tr.sc.(Wissen / Denken + prakt. Ge-meindeleben >> Glauben?).Aber conf + int + tr.a. wichtig!

Sport

Bei Sport ist verständlicherweise der vitale Innenkreis i.d. linken Figur stark vertreten u.im Außenkreis spor, lud (Spiel!),  lib, tr.a.

Rechte Figur: innen soc, mov, pug, dom, mem; außen spor,lud, tr.a.  (tr.a.→ „Mannschaftsgeist“? Fairness?)

Gesch Auch bei Geschichte ist der Innenkreis i.d. linken Figur stark gefüllt; Ausnahme: auf-fallende Lücke o.links (physiolog. Bereich). Rechte Figur: Innen soc, mem(Geschichts- zahlen!), com. Außen sap u. tr.a. . (tr.a.→ völkerverbind. Fach ?)
Deut

s. Abb. 4 links

Linke Figur innen u. außen ähnlich Gesch., aber erec viel stärker (warum im Fach D?). Rechte Figur dünn, in- nen nur com  u.etwas mem, soc, pat (Literatur!), außen aber mit 3 kräft. Spitzen: sap, loqu (!), mus (!), die eine hohe Qualität d.  Faches kennzeichnen.

Tab. 3: Diagramme des gesamten deutschen Gymnasiums – Mittelwerte über alle Fächer

gesamtes Gymnasium: Mittelwerte über alle Fächer Aufg.1: vorgegebenes Menschenbild Aufg.2-4: freie Formulierungen
(s. Abb.8)

 

Fazit aus diesem Vergleich:

Bei Vorgabe des Menschenbildes, unter der Suggestivkraft von Aufg.1 (Bild links), reagieren die befragten Lehrer/innen so, dass sowohl innen als auch außen alle überhaupt möglichen Spitzen erscheinen, innen sogar der – bei den meisten Einzelfächern defizitäre, bei Bio, Mus und Spo aber deutlich ausgeprägte – „physiologisch-gesundheitliche Bereich“ oben links. Betrachtet man nur diese Figur, könnte der Eindruck entstehen, das deutsche Gymnasium sei insgesamt, in der Summe aller Fächer, rundherum auf Menschenbildung angelegt.

In den freien Formulierungen der Lehrkräfte allerdings (Bild rechts), d.h. ohne die Herausforderung durch ein abgerundetes Menschenbild, schrumpft die Figur wieder auf das von den Einzelfächern her bekannte Maß mit wenigen und meist kleineren Spitzen herunter. Erhalten bleiben jedoch, wie zu erwarten, die zwei dominierenden Spitzen, die in Tab. 2 alle Fächer kennzeichneten: außen der sapiens und innen der socians. Insofern scheint in den Augen der befragten 52 Lehrkräfte das deutsche Gymnasium tatsächlich, wie im Untertitel dieses Aufsatzes angedeutet, so etwas wie eine „Sozialeinrichtung zum Verstandestraining“ zu sein (vgl. auch Schaefer 2009, 2012).

Zu der hier in Erscheinung tretenden Einseitigkeit des deutschen Gymnasiums gehört auch noch die Beobachtung, dass in der rechten Figur die Bereiche „Körper“ (oben links), „Wirtschaft“ (unten links), „Kunst“ (unten rechts) und „Transzendenz“ (oben) ziemlich schwach vertreten sind. Das Gymnasium hat, soweit die Aussagen der hier befragten Lehrer erkennen lassen, in den für Lebenserfüllung und -gestaltung so wichtigen 4 Bereichen gravierende Defizite. Es scheint zu „akademisch“ zu sein, zu theoretisch, zu sehr „verkopft“ (s. dazu auch Kast 2007, Schaefer 2009, Schaefer/Yoshioka 2014).

Bezogen auf die eingangs erwähnte Formel „Allgemeinbildung = Summe aller Fächer“ fallen diese Defizite deshalb besonders ins Gewicht, weil eben die „Summe“ nicht stimmt. Eine Korrektur in Richtung eines abgerundeten Menschenbildes – und das kann für die vorhandenen Fächer nur heißen: „nicht nur Fachausbildung, sondern mehr Menschenbildung im Fach“ – erscheint vonnöten.

Um die Aussagekraft von Tab. 3 richtig einschätzen zu können, seien hier noch einige zusätzliche Bemerkungen zu den Spitzen im rechten Diagramm angefügt:

Innenkreis:

communicans → in dem als „Sozialeinrichtung“ (s.o.) verstandenen Gymnasium ist Kommunizieren von Mensch zu Mensch, Schüler zu Schüler, Lehrer zu Schüler und umgekehrt natürlich das A und O des Lernens. Dazu dienen vor allem die Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Latein als Brücke zwischen den Wissenschaftssprachen), aber selbst die Naturwissenschaften mit ihren Fachsprachen, die zunächst einmal eine „Kommunikation mit der Natur“ erlauben, dann aber auch eine zwischenmenschliche Kommunikationdurch exakte Begriffsbildung.

memorans →  Gedächtnistraining. Auch das Speichern von Wissen im Kopf muss im Zeitalter von Internet und Google immer noch ein wichtiges Ziel von Schule sein, damit das Gedächtnis nicht verkümmert und der Mensch nicht zum Technik-Sklaven wird. Das heißt aber nicht, dass dieses Ziel übertrieben werden darf und die Schule wieder einmal zur „Pauk-Anstalt“ wird.

patiens →  auch wenn Verstandestraining – und damit verbunden das Beherrschen von Gefühlen –  in den Augen der befragten Lehrer ein wichtiges Anliegen des Gymnasiums sein mag, so spielen doch Emotionen in allen Fächern (ganz besonders in Sprachen, Literatur, Kunst, Musik, Religion) eine wichtige Rolle; dies nicht nur im zwischenmenschlichen Zusammenleben von Lehrern und Schülern, sondern auch als Lerngegenstand von Unterricht (z.B. in Deutsch, Musik/Kunst, Biologie, Religion, Sport). Die Schulung im Umgang mit Emotionen müsste der oben erwähnten „Verkopfung“ des Gymnasiums entgegen wirken. Selbst Albert Einstein soll einmal zitiert haben: „Wenn alle Menschen mit dem Herzen denken und mit dem Kopf fühlen würden, dann hätten wir die wirkliche Menschheit“.

dominans  →   der Ehrgeiz, in einer sozialen oder auch intellektuellen Rangordnung nach „oben“ zu kommen, wird im Gymnasium – schon allein durch die Notengebung – ständig trainiert (s. in Tab.2 vor allem Sport, aber auch Mathematik, Physik). Dieser Ehrgeiz wird durch den „sapiens“ (den Denker), den „faber“ (den „Macher“) und vor allem durch den „negotians“ (den Geschäftsmann) immer wieder neu angetrieben, braucht aber in einer ausgeglichenen Menschenbildung eine Bremse, die z. B. durch die physiologischen (oben links), die künstlerischen (unten rechts) und die trans-Bedürfnisse im oberen Teil des Menschenbildes geboten wird. Sie sind geeignet, krankmachenden Ehrgeiz in speziellen Bereichen zu dämpfen und den Menschen seelisch wieder in ein Gleichgewicht zu bringen.

sentiens  →  Sinnesempfindungen kommen in einer „Schule des Verstandes“ ganz zweifellos zu kurz, was auch aus dem Schülertest hervorgeht, der in einem gesonderten Aufsatz dargestellt wird. Dennoch zeigt die immerhin vorhandene kleine Spitze bei  -sent, dass das Ziel „Sinnlichkeit“ bei den Lehrern des deutschen Gymnasiums nicht ganz fehlt. Wie Tab.2 zeigt, liegt sie bei den Fächern Musik und Kunst in besonders guten Händen, wird aber selbst in mehr theoretisch orientierten Fächern wie Mathematik und Physik gepflegt. Wie schlimm, dass aber gerade die Fächer Musik und Kunst, die so sehr geeignet sind, Sinnesempfindungen zu kultivieren, im heutigen deutschen Gymnasium nur eine untergeordnete Rolle spielen und – sogar abgewählt werden können!

 

Außenkreis:

faber  → auch wenn das Gymnasium generell mehr theoretisch orientiert ist, so spielen doch praktische Tätigkeiten per Hand in einigen Fächern (z.B. Naturwissenschaften, Abb. 2, auch Kunst und Physik,Tab.2) eine besondere Rolle und tragen zur Übung des „Homo faber“, des handwerkenden Menschen, bei. Das „Begreifen“ per Hand hat im psychophysischen Gesamtorganismus eine Auswirkung auch auf das „Begreifen“ per Kopf, wie auch aus dem Schülertest dieses Projektes, Aufg. 7 (Handgestiken), hervorgeht.

transamans →  das oben herausgestellte stark soziale Anliegen des Gymnasiums kann auch in Verbindung mit dem „transamans“, das heißt: mit einer Zuwendung zu dem „ganz Anderen“ hin, gesehen werden. Aus dem „socians“ wird dann sozusagen ein „trans-socians“. In Tab.2 tritt diese Koppelung von socians und transamans bei Geschichte, Sport, Religion, Musik und auch bei Biologie besonders deutlich hervor, ferner in Abb.5 bei Sozialkunde.

musicans  →  da „musicans“ in unserem Menschenbild nicht einfach eng als „musizierend“, sondern im weitesten Sinne als „musisch“ (im Sinne von künstlerisch-philosophisch) verstanden wird, liegt es nahe, dass dieses Merkmal des Menschen von einigen Lehrkräften auch auf die musische Komponente ihres eigenen Unterrichtsfaches bezogen wurde (s. Deutsch, Kunst, und natürlich Musik in Tab.2). Dass es aber in einigen Fächern (z.B. Sport) doch nicht in Erscheinung trat, lässt vermuten, dass diese Fachlehrer/innen das „Musische“ ihres Faches (nämlich das Künstlerische, Ästhetische) gar nicht gesehen haben.

loquens  →  die wörtliche Rede ist in der Schule ein unverzichtbares Kommunikationsmittel. Sie ergänzt dieanderen wie Gestik, Mimik, Filme, Fotografien, Experimente durch „Erklärung“ und trägt somit ganz wesentlich zum Verstehen von Sachverhalten, also zum „sapiens“ bei. Das Gymnasium lebt immer noch (und in allen Fächern, nicht nur den „Sprachen“) sehr stark vom Wort. Das birgt natürlich immer auch die Gefahr in sich, dass ein Zuviel an Worten das Verstehen eines Sachverhalts wiederum behindern kann (das Gymnasium als „Schwatzbude“ in den Augen von Schülern).

Alle Fächer, vor allem die „sprachlichen“, sind daher aufgerufen – so wie Mathematik- und Physiklehrer es betonen (s.Tab. 1) – , nicht nur die Präzision von Worten zu pflegen (exakte Begriffsbildung), sondern auch den Umfang der Wortsprache durch Einfügen non-verbaler Kommunikationsphasen (Bilder, Musik, Experimentierübungen, Stillphasen, Meditationen) auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren.

Auch Stille (das „non-loquens“ = tacens, das untere Ende vom loquens) sollte als wichtige Unterrichtsmethode eingesetzt werden.

 

 

4. Schlussbemerkung

Zum Abschluss dieser Untersuchung soll nun versucht werden, auf die im Titel gestellte Frage „Fachausbildung oder Menschenbildung?“ eine Antwort zu geben. Dabei muss zunächst geklärt werden, was mit dem „oder“ gemeint ist. Da es zumeist exklusiv verstanden wird, als „entweder-oder“, ist nach den obigen Ausführungen erst einmal festzustellen, dass dies nicht gemeint sein kann. Es geht in einer vernünftigen Bildung nie um ein exklusives Entweder-oder, sondern immer um ein ausgewogenes, inklusives Sowohl-als auch.

Das heißt, in der Sprache der Mathematik: Die Fachausbildungen in Mathematik, Natur-wissenschaften, Sprachen, Sozialkunde, Künsten usw. sind alle „notwendig, aber nicht hin-reichend“. Hinreichend sind sie erst dann, wenn sie außerdem konzentrisch auf ein gemeinsames Fernziel hin ausgerichtet sind, das wir hier „Menschenbildung“ genannt haben. Je klarer dieses Fernziel formuliert ist – und dazu diente das von der Bildungs-kommission der GDNÄ entworfene und hier im Projekt benutzte Stern-Diagramm – , umso leichter lässt sich das pädagogische Ziel in Fachunterricht umsetzen.

Lassen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, die hier vorgestellten Fragen und Gedanken einmal auf sich wirken und bedenken Sie dabei, dass „Bildung“ nicht, wie das Substantiv mit der Endung -ung vortäuschen könnte, etwas Statisches, Bestehendes, eben ein fassbares „Ding“ ist (das Substantiv als „Dingwort“), sondern sie ist immer ein Prozess des Sich-Bildens, so wie ja auch in der Schule „Leben“ eigentlich immer „leben“ (das Verb) bedeuten sollte.

Sofern Sie selbst Fachlehrer/in sind, werden Sie sicher die in den Abbildungen und Tabellen enthaltenen Aussagen über Ihr eigenes Fach mit Interesse studieren, vielleicht auch einmal den Kopf schütteln und protestieren, weil sie Ihren eigenen Unterricht ganz anders sehen. Das ist durchaus legitim, weil es hier ja nicht um allgemeingültige Feststellungen geht, die immer und überall zutreffen müssen, sondern es geht in erster Linie um das Aufwerfen von Fragen, die jeder an sich selbst stellen sollte: „Gilt das auch für mich, für meinen Unterricht? Und was kann ich daran ändern?“

Fünf dieser Fragen wurden schon im Untertitel dieses Aufsatzes genannt und müssten durch die dargebotenen Ergebnisse eigentlich beantwortet sein. Nur eine sei hier zum Abschluss noch einmal explizit herausgehoben, da ihre Beantwortung in einer überalternden und von vielen Krankheiten geplagten Gesellschaft immer dringlicher wird:

Im deutschen Gymnasium ist der physiologisch-gesundheitliche Bereich (Menschenbild oben links, Abb.8 und Tab.3) sehr spärlich vertreten, – viel spärlicher als in Japan. Sind die deutschen Fachlehrer von Physik, Mathematik, Geschichte, Deutsch usw. (außer den Biologielehrern natürlich) nicht an der Gesunderhaltung der jungen Generation interessiert und überlassen das lieber Eltern, Sportvereinen, Apotheken, Ärzten? Kann es sein, dass das Denken in Fächern zu der Abschottung verführt: „das muss der Andere machen, – das ist nicht meine Sache“ ?

 

 

Danksagung und Nachwort

Die hier vorgelegte empirische Studie wurde an 52 deutschen Lehrkräften von Gymnasien (101 Fachauskünfte) und 104 japanischen Lehrkräften (104 Fachauskünfte) vorgenommen. Die deutschen Lehrkräfte wurden durch freundliche Unterstützung von Frau Regina Bernauer, Frau Angelika Hartmann, Herrn Dr. Michael Sinzinger und Herrn Thomas Stockerl gewonnen, denen hier noch einmal unser besonderer Dank ausgesprochen sei. Auch den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern selbst möchten wir an dieser Stelle noch einmal herzlich dafür danken, dass sie Zeit und Mühe für die Bearbeitung des Tests aufgebracht haben.

Die Projektgruppe bestand in Deutschland aus Prof. Dr. Gerhard Schaefer (Projektleitung Deutschland, Leiter der ehemaligen GDNÄ-Bildungskommission, Erziehungs- und Naturwissenschaftler), seiner Frau Sigrid Zörgiebel-Schaefer (Musiklehrerin, Atemtherapeutin) sowie Herrn Dr. Michael Sinzinger (Fachlehrer Physik u. Mathematik), in Japan Mr. Ryoei Yoshioka (Projektleitung Japan, Forschungsleiter am NIER Tokyo), Prof. Dr. Matsuhiko Terada (Chemiedidaktiker, Gifu University), Prof. Dr. Takeshi Fujita (Science Educator, Chiba University) und Prof. Dr. Stefan Kaiser (Linguist, ehemals Tsukuba University).

Die hier vorgelegten Daten sind empirisch gewonnen, also „wahr“ im Sinne empirischer Forschung. Die empirische Basis (mehr als 100 Fachaussagen von Lehrkräften) ist zwar, statistisch gesehen, schmal, aber breit genug, um berechtigte Fragen aufzuwerfen im Sinne von „könnte es sein, dass …?“

Es handelt sich hier nicht um eine Großstudie wie PISA, die mit Tausenden von Probanden und in vielen verschiedenen Ländern operiert und am Ende aussagen soll, wie die Dinge (mit hoher Wahrscheinlichkeit) „sind“ und wie sich Länder unterscheiden. Stattdessen hat diese kleinere empirische Studie einen heuristischen Wert, indem sie ganz einfach Fragen aufwirft an Fachlehrer, ihren Unterricht, ihre Aus- und Fortbildung, – Fragen, die am Ende zu einer Verbesserung des Unterrichts beitragen können.

Fußnoten

1) Erstens waren – und sind – nachweislich in einigen Bundesländern Deutschlands immer wieder eklatante Lücken im Fächerspektrum festzustellen, zum Beispiel im naturwissenschaftlichen Unterricht, im Kunst- und Musikunterricht; in den Sprachen (Latein!), im Religions- bzw. Ethikunterricht, in Leibesübungen/Sport usw., so dass von einer abgerundeten „Allgemeinbildung“ in Deutschland nicht generell die Rede sein kann. Das sollte hier noch einmal überprüft und mit den Verhältnissen in Japan verglichen werden (vgl. auch die früheren Projekte, Schaefer/Yoshioka 2000 u. 2014).

Zweitens zeigt die Fülle fachdidaktischer Begriffsforschungen der letzten 40 Jahre deutlich, dass die Summe von Fächern, so wie in Deutschland angenommen, nicht automatisch die gewünschte „Allgemeinbildung“ hervorbringt, da die Fächer sehr oft nicht ausreichend miteinander vernetzt werden. Die Fachinhalte bleiben dann isoliert nebeneinander stehen und bilden kein organisches Ganzes (s. Schaefer/Manitz-Schaefer 2002, u. Schaefer 2009).

Literatur

Frisch, Max, 1957:  Homo faber. Bibliothek Suhrkamp: Frankfurt a.M.

Heisenberg, Werner, 1959:  Physik und Philosophie. Hirzel: Stuttgart

Huizinga, Johan, 1994:  Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt: Reinbek

Kast, Bas, 2007: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Die Kraft der Intuition. S.Fischer: Frankfurt a.M.

Nagano, Kent, 2014:  Erwarten Sie Wunder. Expect the Unexpected. Berlin-Verlag/Piper, Berlin

Schaefer, Gerhard –

– 1979:  Concept Formation in Biology. The Concept „Growth“. Eur.J.Sci.Educ. 1 (1), 87-102

– 1984: Naturwissenschaftlicher Unterricht auf dem Wege vom exklusiven zum inklusiven Denken. MNU 37/6, S.324-336

– 1998-1: Balanceakt Gesundheit. Die Kunst, richtig zu leben. Wiss.Buchgesellschaft: Darmstadt

– 1998-2: Ästhetik und Erkenntnis aus biologischer Sicht. In H.J. Kaiser: Ästhetik und Erkenntnis. Hamburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft  Nr.1,  S.53-58

– (Hrsg.) für die GDNÄ, 2002, 2007: Allgemeinbildung durch Naturwissenschaften.  Denkschrift der  GDNÄ-Bildungskommission. Aulis: Köln.  Kurzfassung 2010. Ergänzung 2014.

– (Hrsg.), 2009: Nicht-gebildete Bildung? Schule auf der Suche nach Sinn. Peter Lang: Frankfurt a.M.

– 2012:  Biologie und Bildung – Kann die „Wissenschaft vom Leben“  helfen, unser menschliches Leben sinnvoll zu gestalten? URANIA 44, S.26-48

– 2015:  Faszination Bildung – Vorbild Natur? Naturwiss. Rundschau  (NR)  10, 83-91

– u. Yoshioka, Ryoei, 2000: Balanced Thinking. An Educational Perspective for 2000+ on the

– Basis of a Cross-cultural German/Japanese Study. Peter Lang; Frankfurt a.M.

– u. Manitz-Schaefer, Regina, 2002: Zickzack-Lernen. Ein erfolgreicher  Weg vom Halbwissen zum Wissen. Peter Lang: Frankfurt a.M.

– u. Yoshioka, Ryoei,  2014: Thinking and the Sense of Life. A Comparative Study of Young

– People in Germany and Japan.  Educational Consequences. Peter Lang: Frankfurt a.M.

Prof. Dr. Gerhard Schaefer

Naturwissenschaftler, Bildungsforscher

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